19.12.2007 Prof. Ekkehard Klemm, Dirigent – Oratorium “MenschenZeit”

Pressestimmen/Meinungen
Meinungen und Pressestimmen von:
Prof. Karl-Heinz Wahren, Stefan Amzoll, Prof. Ekkehard Klemm, Prof. Dr. Herrmann
Prof. Karl-Heinz Wahren – Prof. Lothar Voigtländer zum 65. Geburtstag
Am 3. September 2008 erreicht das GEMA-Aufsichtsratsmitglied und gleichermaßen Vize-Präsident des Deutschen Komponistenverbandes, Lothar Voigtländer, mit seinem 65. Geburtstag das staatlich festgelegte Rentenalter. Freilich ist bei einem freischaffenden Komponisten –und noch dazu aus dem Genre der ernsten Musik – an eine arbeitsfreie Pensionierung im holden Licht einer mild scheinenden Abendsonne nicht zu denken. Und ganz besonders nicht bei einem Zeitgenossen wie Lothar Voigtländer, der allen politischen Verwerfungen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Trotz nicht ausschließlich um das eigene Fortkommen bemüht war, sondern sich auch den vielfältigen berufsbedingten Problemen seiner Kollegen annahm.
Allen politischen Verwerfungen zum Trotz heißt: Der Geografie seines Geburtsorts verdankte der Sohn eines sächsischen Bauunternehmers, dass er sich nach dem 2.Weltkrieg plötzlich als Bürger eines sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates ostdeutscher Provenienz wieder fand. Dort herrschten politische Spielregeln, die nicht nur für christlich orientierte Mitbürger zahllose Fallstricke bereithielten.
So war in der DDR zum Beispiel staatlich streng geregelt, wer überhaupt zum Hochschulstudium zugelassen wurde. Unter diesen Umständen stand Voigtländer auf sehr dünnem Eis, seiner so genannten bourgeoisen Herkunft wegen, und fatalerweise war er auch nicht geneigt, im Marx-Engels’schen Dialektischen Materialismus eine neue Göttlichkeit zu erkennen. Diese Haltung erforderte gerade unter Kunstschaffenden einen täglich neu auszulotenden Pragmatismus, sicher nicht unähnlich den kunstvollen Balanceakten der im18. Jahrhundert tätigen Hofmusiker ,mit denen diese ihre künstlerische Lebens und Leidensfähigkeit gegenüber den Launen ihrer aristokratischen Brotherren im dynastisch zerstückelten Deutschland beweisen mussten. Es gelang Voigtländers Vater, seinen musikalisch hochbegabten Sohn beim Dresdner Kreuzchor unterzubringen, wo er durch den international renommierten Chefdirigenten Rudolf Mauersberger eine umfassende musikalische Ausbildung erhielt, ohne direkt den täglichen Repressionen eines real existierenden Sozialismus ausgesetzt zu sein. Mit 12 Jahren schrieb Voigtländer bereits seine ersten Motetten und Chorlieder und qualifizierte sich sehr früh als Chorpräfekt des Dresdner Kreuzchors mit diversen Dirigaten.
Ab 1962 führte er sein Musikstudium an der Leipziger Musikhochschule fort mit den Hauptfächern Komposition (Fritz Geißler)und Dirigieren (Rolf Reuter)und schloss 1968 mit beiden Staatsexamina ab.
Anschließend war er am Theater in der Altmark als Chordirektor und Kapellmeister tätig, parallel dazu verfeinerte er seine Kompositionstechnik als Meisterschüler der Berliner Akademie der Künste bei Prof. Günter Kochan.
Zu dieser Zeit begann auch Voigtländers intensive Kompositionsarbeit. Es entstanden nach und nach zahlreiche Orchesterwerke, Oratorien, Orchesterlieder, Kammermusiken und auch Hörspiele für den Rundfunk. Seit 1973 lebt er als freischaffender Komponist in Berlin. Nach Spezialstudien mit elektro-akustischer Musik in Bratislava und Budapest war er 1984 Mitbegründer und Vize-Präsident der Gesellschaft für elektro-akustische Musik in der DDR. In den 90er-Jahren rief er das Festival “Lange Nacht der elektronischen Klänge” in Zusammenarbeit mit dem elektronischen Studio der Berliner Akademie der Künste (West) ins Leben. Voigtländer dirigierte eigene Werke und Konzerte als Klang Regisseur in Co-Produktionen mit Choreografen für Tanz-Performances, ebenso Video-Realisationen und Klanginstallationen in Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern. In diese Jahre fällt auch seine erste Gastprofessur an der Universität Paris VIII. Dort fand schließlich die Uraufführung seines Kammeroratoriums Le temps en cause nach Texten von E. Guillevic statt, weitere Aufführungen unter Voigtländers Dirigat mit dem Kammerorchester Liverpool zusätzlich in den Städten Manchester, Chester und Liverpool. Zwischenzeitlich übte sich Voigtländer in verschiedenen Lehrtätigkeiten, u.a. war er sieben Jahre in Folge Leiter einer Kompositionsklasse bei den sommerlichen Ferienkursen für zeitgenössische Musik in Gera.
Inzwischen brachte es die zunehmende politische und wirtschaftliche Instabilität der DDR mit sich, dass die Berliner Kollegen den politisch unbelasteten Voigtländer zum Vorsitzenden des Ostberliner Berufsverbandes wählten. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten fusionierten auch der Ost- und Westberliner Komponistenverband und Voigtländer wurde der Vorsitz anvertraut. 1997 berief der Bundesvorstand des Deutschen Komponistenverbandes ihn als Mitglied, 2007 avancierte er zum Vize-Präsidenten des DKV.
Ständige Aufführungen und Rundfunksendungen aus seinem breit gefächerten Werkkatalog brachten Voigtländer 2001 die Berufung an die Musikhochschule Carl Maria von Weber in Dresden ein, wo er seit 2003 eine Honorarprofessur für Komposition innehat.
Bei der GEMA war Voigtländer 6 Jahre im Werkausschuss als stellvertretender Vorsitzender tätig und seit 2006 ist er Mitglied des GEMA-Aufsichtsrats, wo er sich besonders für die Belange der ernsten Musik einsetzt.
Trotz all diesen zeitraubenden, zum Teil außermusikalischen Aktivitäten war Lothar Voigtländer stets bestrebt, sein eigentliches Lebensziel, die schöpferische Arbeit, d. h. Musik aus seinem künstlerischen
Empfinden unserer Gegenwart neu zu schaffen, nicht aus den Augen zu verlieren. Infolge dieser Zielsetzung schwoll der bereits oben erwähnte Werkkatalog im Laufe der Jahre erheblich an: Das gerade im Dezember in Dresden uraufgeführte mehr als einstündige, groß besetzte Oratorium MenschenZeit ist zunächst die letzte veröffentlichte große Chorkomposition Voigtländers.
Als ich ihn 1990 kennen lernte, war er längst ein renommierter Komponist, den wir gern in unsere seit 1965 bestehende Gruppe Neue Musik Berlin (West) zur Mitarbeit beriefen. Voigtländer zeigte sich
als ein vielseitiger, einfallsreicher, in seiner Stilistik nicht ausufernder Komponist, den die neue Atmosphäre, in der er jetzt wirkte, offensichtlich künstlerisch anregte. Wir führten freilich auch keine Formalismusdiskussionen, sondern veranstalteten interessant programmierte Kammermusik-Konzerte, um die von uns in jüngster Zeit entstandenen Werke der Öffentlichkeit vorzustellen.
Voigtländer zeigte nicht nur eine überdurchschnittliche Musikalität, er erwies sich auch bald als ein einfallsreicher Organisator. Außerdem kam sein natürliches Redetalent schließlich uns allen zugute. Das war allerdings nur eine von mehreren uns allen nützlichen Plattformen Voigtländers. Vielfach geehrt wurde er auf dem Festival für elektro-akustische Musik im französischen Bourges. Dort erhielt er für die Realisation seiner Werke in den Jahren 1976, 1977, 1981, 1985 und 1988 Preise, 1992 dann die goldene CD und 1996 schließlich den Grand Prix. Neben der Nacht der elektronischen Klänge war er Mitinitiator der Konzertreihen Time Code und Zeit-Klänge. Im Jahr 2002 wurde seine Kammeroper Visages nach Texten von E. Guillevic am Schlosstheater Rheinsberg als Auftragswerk uraufgeführt, 2003 wurde Visages in Weimar neu ins Programm genommen.
Voigtländers Musik ist vital, ja stringent – ein Wort, das er selbst gern benutzt – und trotz aller Modernität durch ihre gelegentliche Hinwendung zu vertrauten Klängen vergangener Musikepochen von aufmerksamen Hörern gut erfassbar. Sie versucht, Leiden und Schmerz, aber auch Freude und gelegentliche Ausgelassenheit der Menschen unserer Zeit wiederzugeben, allerdings durch heutige musikalische Codes verfremdet und ohne sich allgemein üblicher Klischees zu bedienen. Wir wünschen Lothar Voigtländer noch viele Schaffensjahre, in denen er sich nicht nur für das Wohlergehen seiner Kollegen einsetzt, sondern in denen er im allgemeinen melting pot of culture dem ästhetischen Bedeutungsverlust unserer zeitgenössischen ernsten Musik mit interessanten musikalischen Werken überzeugend entgegentritt.
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Stefan Amzoll: Wagnis – ein fruchtbarer Ort | Oratorium “MenschenZeit”
»Vorsicht hat noch nie einen Sieg errungen, Ungestüm schon oft!«

Arnold Schönberg

Neue Musik, umschifft sie die Bedrängungen des Lebens und frönt den Moden, ist meist tödlich langweilig. Das ist ein Jammer. In ihr steckt so viel. Hunderte formale, klangliche, technische Entdeckungen seit Schönberg schreien danach, zeitgemäß mobilisiert zu werden. Wo sind die Geister, die das Potential wie Lava hinausspeien?

Lothar Voigtländer, Jg. 1943, schuf ein Oratorium, das wahrlich brennendes Material hochwirft: »Menschenzeit« auf Texte von Eugéne Guillevic für vier Solisten, Chor und Orchester. Es kam am Dienstag in der Dresdner Lucaskirche zur Uraufführung, einem Raum mit hervorragender Akustik. Ein Stück, gehörig entfernt von der alten Oratoriumsmusik und doch irgendwie darin gebettet, ein 45-Minuten-Werk, das Gedanken entwickelt, das formal klug disponiert ist, das durchgängig Spannung hat. Ein Wurf, der den Sängern und Musikern Maximales abverlangt. »Unser Gesang weiß mehr als wir von der Erde, vom Tod…« – Worte des Dichter-Philosophen Eugène Guillevic, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr nicht nur in Frankreich begangen wurde. Lothar Voigtländer bewundert dessen Verse und Wahrheiten nicht nur, er komponiert sie auf bewundernswerte Weise. Sie spiegeln sich in vokalinstrumentalen und elektroakustischen Stücken, die Gesangsparts einbeziehen, und in einem Kammeroratorium mit dem Titel »Le temps en causa«, das 1990 entstand und in Paris und Liverpool erklang.

Was charakterisiert nun die neue Komposition? Zunächst: Sie beweist ungeheuren Mut. Guillevics Dichtung erzählt keine Geschichte. Sie besingt symbolhaft die Zeit, die dem Einzelnen bleibt. Was in ihr sich widersprüchlich vollzieht: Schönheiten, Schrecknisse. Zeit läuft unerbittlich, bleibt stehen, dreht zurück, ruft, brüllt. Zeit, die singt und schweigt. Die Uhren ticken in »Menschenzeit« anders. »Die Zeit, die einen Vogel hinsiechen lässt im Sand und zum Schweigen bringt reines Wasser.«

Mixturen fallen ins Gewicht, Collagen, Montagen. Was immer passiert, es ist mehrschichtig angelegt. Linearität hat zu schweigen. Stimmen zweier Chöre, eine Gruppe Chorsolisten und ein großer gemischter Chor, verwoben mit orchestralen und instrumentalen solistischen Parts, auch mit freien improvisatorischen Teilen. Posaunensoli – so verrückt wie die von Jericho – lassen »Mauern aus Stein und Erde« erzittern. Jede Gesangsstimme, vom Sopran bis zum Bass, darf, selten unbegleitet, die Expressiva ihrer Anmut, ihrer Traurigkeit, ihres Zorns widerspruchsvoll aussingen. Instrumente und Instrumentengruppen treten aus ihrer Begleitrolle heraus. Markante Choreinwürfe zerklüften die komponierte Landschaft. Polyphonie ist deren Hauptmerkmal. Nichts geht glatt durch. Die Aufmerksamkeit des Ohres ist gefragt, seitens der Aufführenden wie der Hörer. Textmaterial kommt stellenweise französisch und deutsch (Nachdichtung Paul Wiens).

»Menschenzeit« vertraut Eugène Guillevics humanen poetischen Spiegelungen, attackiert sie aber auch, das heißt, die Musik löst sich vom Text und bringt vollkommen neue Gedanken. Wie bei Bach fahren Chöre und Instrumente im Forte Fortissimo drein, sie fordern ihr Recht, sie wollen handeln, schreien, schlagen: »Steine und zuschlagen, zuschlagen, die Steine zur Hand«, ruft das Vokalensemble zusammen mit dem Sopran. Die Kraft des vollen Klangkörpers kündigt schon die Eröffnung an: »Die Zeit – nicht die Zeit«. Der Bogen spannt sich im Finale. Es lässt alle Schwellenängste hinter sich und begehrt auf wider diese Zeit: »LES HOMMES – PAS LES HOMMES!« kommt scheinbar in einer Molltonart. Aber nichts ist mit moll. Es genügt nicht zu raunen, zu trauern, zu seufzen. Der Schrei muss raus wie die Kugel aus dem Gewehrlauf. Ganz zuletzt brodelt es nur noch wie die glühende Lava. Ein einzigartiger Tumult.

Wahnwitz einer Philharmonie, wie ihn vielleicht nur Bernd Alois Zimmermann und Friedrich Schenker komponieren konnten. Vorsicht hat noch nie einen Sieg erringen können. Das Wagnis ist der fruchtbare Ort. Lothar Voigtländers »Menschenzeit« ist ein Meisterwerk. Hohe Anerkennung allen Ausübenden. Den jungen Musikern der Sinfonietta Dresden. Den hochmotivierten Chören der Singakademie Dresden. Dem Solistenquartett, das anspruchsvollste Aufgaben zu bewältigen hatte. Dem Dirigenten Ekkehard Klemm, dem eine starke Gesamtaufführung zu danken ist. Sie erhielt viel Beifall.

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“…unter unserm Gesang, der mehr davon weiß als wir,
der sein wird unser Gesetz…”

Reflexionen aus Anlass der bevorstehenden Uraufführung – anstelle einer Einführung
I
Es gehört zu den spannendsten und schönsten Aufgaben, Werke von Komponisten uraufzuführen – ‘aus der Taufe zu heben’, wie es so sinnig heißt und welche Formulierung so viele Deutungsmöglichkeiten zulässt… Besonders aufregend ist diese Tätigkeit, wenn es sich um Stücke handelt, deren inhaltliche Dimension bedingt durch Größe oder Länge bereits vorher klar ist und die im Oeuvre des Komponisten zweifellos eine bedeutende Rolle einnehmen werden. Es bleibt ebenso das Privileg wie die ungeheure Last von Dirigenten, die erste Interpretation – das Wort kommt von: dazwischenschieben… – verantworten zu dürfen. Stets bedeutet diese Lust und Last, auf Entdeckungsreise zu gehen, Hochgefühl und tiefe Verzweiflung wechseln einander schockartig ab; dicht nacheinander können Vorfreude, Enthusiasmus, Ergriffenheit, aber auch Ärger über Notationsprobleme, Druck- oder Schreibfehler, über Verstehensprobleme dem Gegenstand gegenüber oder schlicht über einen ungenügenden Probenstand stehen. Spät erst schält sich ein Gesamtbild heraus. Das wohlfeile Urteil der Kritik – top oder Flopp – oft nach einmaligem Hören gefällt, es erscheint dem bis dahin überdies mit Betriebsblindheit gesegnetem Interpreten nur wenige Stunden vorher.
Es gibt Stücke wie Tarnopolskis “Wenn die Zeit über die Ufer tritt” (UA München 1999), die sind 3 Wochen vor dem Termin noch nicht fertig (ein ganzer Akt fehlte noch, es drohte das Chaos) – alles ist in Bewegung, völliges Scheitern nicht ausgeschlossen; solche wie Terterians “Das Beben” (UA München 2003), die über 20 Jahre auf ihre ‘Taufe’ warten müssen und deren sensationeller Erfolg vielleicht einzig dem schon längst verstorbenen Komponisten klar war… (noch zur Hauptprobe bat ich den Intendanten um Vergebung, das Stück empfohlen zu haben); solche wie Krätzschmars “Schlüsseloper” (UA Dresden 2006), deren Üppigkeit und schiere Länge einen zur Verzweiflung treiben oder solche wie Weiss’ “Confessio Saxonica” (UA Dresden 2006) oder Herchets “Kantate zum Fest Jacobus des Älteren” (UA Dresden 2007), deren große Klarheit und strukturelle Dichte sofort für sich einnehmen. Ein Sonderfall ist das eigene Stück (“3 in 1”, UA Dresden 2006) – hier dominiert der schwankende Boden unter den Füßen…
Das für Lothar Voigtländer reservierte Blatt in der Liste der von mir dirigierten Uraufführungen trägt stark vegetative Züge, ist beschrieben mit grellen Farben ebenso wie mit pastellenen Tönen. Es gibt sehr dunkle Töne darauf, schwarze Löcher, die alles zu verschlingen drohen und auch mit kantigen Materialien hervortretende Rauheiten. Was ich als Dirigent nie vorhersehen kann, sind die Reaktionen der Ausführenden und des Publikums: große Emotionalität habe ich sich in Nichts auflösen sehen, und abgesicherte Strukturen können umgekehrt nicht für kraftvollen Ausdruck bürgen… Es bleibt das Geheimnis jedes Werkes und das seiner Schöpfer, warum es existiert und wie es uns anspricht. Als Interpreten haben wir die Pflicht, diese Geheimnisse zu suchen – eine Garantie, sie zu finden gibt es nicht. Aber der Verzicht auf das Suchen bedeutete den Tod der Musikgeschichte. Krisen, Unwägbares gehören zum Normalfall von Uraufführungen, sind das kreative Potenzial, das zu bewältigen zu tieferem Verständnis, zur überzeugenden Kraft einer Aufführung gerinnen kann. Die Möglichkeit des Scheiterns lauert auf dem weißen Blatt Papier wie im Konzert der Uraufführung. Weiterleben heißt immer: neues wagen – der Tod der Kunst wäre die Kapitulation vor dem Ungewohnten, Unerhörten.
“Erde, es kommt der Tag, da wir dich kennen werden, da wir eintreten dürfen uns dir zu vermählen, schauernd zu sehn, wie sich öffnen für uns Arten von Türen, Arten von Mauern, unter unserm Gesang, der mehr davon weiß als wir,
der sein wird unser Gesetz.”

Unser Gesang weiß mehr als wir von der Erde, vom Tod… – und er wird sein unser Gesetz! Schöner als Eugène Guillevic und sein Übersetzer Paul Wiens kann man das kaum treffen.II
“Weil es ein Ende gibt für diese Tage vor dir”
Wie heißt es bei Brahms? “Siehe, meine Tage sind einer Hand breit vor dir…”.
Zwei wichtige Spannungslinien bilden den Humus, aus dem das neue Oratorium wuchs. Eine davon ist Voigtländers tiefe Verwurzelung und Verbundenheit mit der großen Chortradition, seine Nähe zum Gesang. Kreuzchor, Rudolf Mauersberger, Schütz, Bach, Brahms waren die Eckdaten des beginnenden Künstlerlebens, das über die Kapellmeisterlaufbahn bald ins Komponieren, ins eigene schöpferische Tun fand und sowohl vor als nach 1989 wichtige Akzente der zeitgenössischen deutschen Musik beifügte.
Innerhalb dieses bedeutsamen Weges stößt Voigtländer 1975 auf einen Gedichtband von Eugène Guillevic (der seinen Namen nach Voigtländers Erzählung mit einem deutlichen Anklang an ein nicht so stubenreines deutsches Wort ausgesprochen haben wollte…). Guillevic war “befreundet mit Louis Aragon, von Éluard sichtbar gebrannt… vielleicht(in) Beziehung zu Mallarmé zu setzen… Namenloses, Unerhörtes, Ungeheures zur Sprache zu bringen….” – so charakterisiert Paul Wiens ihn, einer seiner deutschen Übersetzer. Guillevic selbst übersetze Hölderlin und Trakl. “Nichts von den Symbolisten, nicht von den Surrealisten. Bei Guillevics Art zu beten werden die Hände schmutzig: er arbeitet.”
“Steine, Felsen, das Meer, die Stille, die Zeit, die Menschen in der Zeit – und immer wieder: die Menschen – sie sind der Gegenstand seiner poetisch-philosophischen Untersuchungen. Er sucht ‘das Geheimnis der Dinge’ in den Dingen, hinter Dingen” – so der Komponist Voigtländer. Und weiter: “Ängstlich (als junger Mann) trat ich (etwa 1978) seinerzeit Guillevic, dem großen alten Mann der französischen Poesie gegenüber, ob er mir eine solch freie, ja fast gewalttätige künstlerische Einmischung in sein Leben erlauben werde. Erst verwundert über solche Kühnheiten der dramaturgischen Zuordnungen seiner Worte, gab er mir dann später in einem Brief die schriftliche und unumwundene Einzel-Erlaubnis, dass ich seine Worte, seinen Geist handhaben dürfe. Er hatte unendliches Vertrauen, da er meinte, dass ich seine Philosophie, sein Innerstes verstanden habe… auf eine sehr deutsche Weise, wie er schmunzelnd anfügte …er nannte mich ‘seinen deutschen Komponisten’ … Daraus folgt, dass ich die Texte (besser: die Worte) also nicht ‘vertonte’, vielmehr komponierte ich die Philosophie, den darinnen wohnenden Geist.” Guillevic wird für Voigtländer zur Obsession, die Texte nennt er seine ‘philosophische Bibel’.
Diese Erinnerungen des Komponisten beziehen sich zunächst auf ältere Werke, auf die “Meditations sur le temps” von 1975, auf “Hommage à un poète” von 1985 oder “De savoir la menace” aus dem Jahr 1987. All diese Werke sind gewissermaßen Vorstufen für die großen Auseinandersetzungen, die im neuen Oratorium kulminieren: 1990 entsteht das Kammeroratorium “Le temps en cause”, schließlich 2001/02 das KammerSzenario “Visages” für Sopran, Sprecher, 9 Instrumente und elektroakustische Zuspiel-Bänder. Beiden Werken ist gemeinsam, dass sie von keiner Handlung getragen sind. Brigitte Kruse notiert in der Einführung zur CD des KammerSzenario: “Der Gegensatz könnte größer nicht sein: der Lyriker, der in äußerster Reduktion jedes Wort wie einen wertvollen Diamanten von jeder Seite betrachtet, und der Komponist, der für das Theater, multimedial und in großen expressiven Bögen denkt. Lothar Voigtländer macht die Texte ‘bühnentauglich’, indem er Worte, Verse und ganze Strophen aus den Gedichten nimmt, zerhackt und neu montiert.”
2006 legt Voigtländer mir die Partitur des Kammeroratoriums auf den Schreibtisch, ein Stück, das bereits in Paris und Liverpool erklungen ist. Er will wissen, was ich davon hielte, es zu einem großen Oratorium zu erweitern. Wer soll da widersprechen? Wer wagte es, den leidenschaftlichen Blicken eines längst von der Idee entzündeten Komponisten ein ‘nein, vergiss es’ entgegenzuhalten? Das kann man bei allen Fragen und bevorstehenden Schwierigkeiten nicht ernsthaft wollen. Ich ermutige und stelle die Uraufführung in Aussicht.
Was folgt, ist eine großangelegte Erweiterung, Umarbeitung, Einarbeitung, Neubearbeitung… – letztlich eine völlige Neuschöpfung. Die Chorteile sind teilweise dem Kammeroratorium von 1990 entnommen, jedoch völlig neu gefasst unter Verzicht auf die damalige Aufteilung auf 16 Vokal- und Instrumentalsoli. Nunmehr gibt es 4 Gesangssoli, kleinen Chor, großen Chor und Orchester. Völlig neu sind die eingefügten Abschnitte der Soli, lediglich Teil VI (Steine) – das Solo des Soprans – ist in “Visages” vorgeprägt.
Hier nun begegnen sich die beiden Spannungslinien: die vom klassischen Oratorium bekannte Gegenüberstellung Chor – Arie wird dem für Gullevics Texte vom Komponisten gefundenen Kompositionsprinzip der Textcollage unterworfen. Heraus kommt ein Werk, dessen Textbehandlung in der Oratoriengeschichte der jüngeren Zeit allenfalls mit den “Trois Poèmes d’Henri Michaux” von Lutoslawski (pikanterweise auch nach französischen Texten!) vergleichbar ist. Der Musikwissenschaftler Matthias Hermann schreibt: “Die dem Oratorium ‘MenschenZeit’ zu Grunde gelegten Texte von Eugène Guillevic sind von seltener Tiefe und Schönheit. Ihr Grad der Verallgemeinerung ist für die Gattung Oratorium ein Gewinn, dominierte doch mitunter bei oratorischen Werken vor allem des 20. Jahrhunderts zu sehr das Konkrete.” Nicht zuletzt verzichtet Voigtländer bewusst auf theologische Implikationen – sein Nachdenken über den Menschen und seine Zeit wurzelt in der verinnerlichten oratorischen Tradition, findet jedoch mit Guillevic einen Weg, der den lieben Gott zunächst nicht beim Namen nennt: “Es erscheint künstlerisch legitim, dass ich dies mit meinem eigenen Wissen, Glauben, Zweifel anreicherte, in musikalische Semantik setzte, was ich über Dinge, Menschen etc. empfinde, denke. Ich hoffe, dass Guillevic dies auch in dieser im Oratorium so text-exegetischen Weise mit getragen hätte wie er das zu Lebzeiten mir auszudeuten gestattete.” Und dann doch der Bezug zu den geistlich geprägten Vorfahren: “das umschreiben, was uns hier auf Erden bewegt, zusammenhält, umbringt, – das schien mir geradezu biblisch geeignet für ein Oratorium (Requiem)… Was bei Guillevic atheistische Suche nach dem Geist in den Dingen, ja, im Menschen ist, das wird bei mir ergänzt durch religiöse, pantheistische, dramatisch zugespitzte und ins Verzagen (auch Ironie) geführte musikalische Diktionen. Den (fast unheimlichen) Glauben an den Menschen eines Guillevic respektiere ich, frage aber sehr aggressiv nach und verhöhne durchaus gnadenlos” (Voigtländer in einem Brief an den Autor).III
“Aber der Augenblick dehnt sich, der Tiefe hat”
Zu Voigtländers Wissen, Glauben, Zweifel gehört zweifelsohne die Auseinandersetzung mit dem Thema DDR und Deutschland. Der Blick des jungen Komponisten aus dem ostdeutschen Berlin ins damals sehr ferne Paris mag von großer Sehnsucht getragen gewesen sein. Nicht zufällig bricht sich die bis dahin bedeutendste Auseinandersetzung mit Guillevic in “Le temps en cause” 1990 Bahn, einer Zeit, wo Aufführungen in Paris, Liverpool, Manchester, diesseits wie jenseits der “Mauer aus Stein und Erde” möglich wurden. Voigtländer, mit seinem Engagement innerhalb der Internationalen Gesellschaft für elektroakustische Musik auch über die Grenzen bekannt, wachsen nach der Wende wichtige Aufgaben zu. Federführend und als Vorsitzender ist er bei der Fusion der Komponistenverbände Berlin Ost und West dabei. Im Werkausschuss der GEMA ist er Stellvertretender Vorsitzender. Voigtländer mischt sich ein, moderiert, inspiriert, leitet Kurse, Musikfeste, Studios, Konzertreihen… Kein zurückgezogen meditierender Tondichter – obwohl auch das!
…und ist also wie wir alle nicht vor den Eruptionen der Gefühle gefeit: “Eins zwei drei – bei Nacht den König umgebracht” – ein Echo des Herbstes 1989? Voigtländer hierzu: “Ein kreuzige, kreuzige ihn – Pöbel-Chor!” Bereits im Kammeroratorium von 1990 sind die Zeilen und die dazugehörige Musik zu finden. Brutal hämmernd, gerufen statt gesprochen – geradezu lustvoll wird der König gestürzt, “Eins zwei drei – wie bald ist der König kalt”; mit diabolischer Freude wir das Wörtchen “froid” wiederholt.
Und alles steht unter der Überschrift “Die Spiele – nicht die Spiele”. Mehr noch als im Kammeroratorium von 1990 wird im neuen Werk von 2007 die geheimnisvoll seltsame Gegenüberstellung des Wortspiels thematisiert, die Brechung zum entscheidenden Stilmittel. Der brutal zuschlagenden Musik des “Un deux trois” antwortet nach dem zweiten Erklingen das fragile “palotte fleur”, dem französischen Original ist durch das ganze Stück hindurch der auch in Wiens Übersetzung literarisch gleichermaßen wundervolle deutsche Text gegenübergestellt – die gesamte Komposition damit bilingual strukturiert.
Die dem KammerSzenario entlehnte Arie des Soprans (Teil VI) folgt der nackten Gewalt von Teil V, danach fügt der Komponist nunmehr ein da capo ein (Beginn von Teil VII), Teil V, VI und VII verschmelzen somit zur groß angelegten ABA-Form mit Coda (“Palotte fleur…”, der Schluss des Teiles VII). Was 1990 in kleineren Dimensionen angelegt war, wird nun zum dramaturgischen Kern, zum Kraftzentrum und Mittelpunkt des Oratoriums. Hierhin führen alle Gedankenlinien, von hier aus werden sie wieder neu geordnet und zusammengesetzt. Der Stimme der Gewalt antworten Guillevic/Voigtländer vieldeutig: “Blässliche Blume, was davon bleibt. Der Wind, der Regen, an Rücksicht so wenig.” – Text und Musik brechen auch hier die Exzesse rhythmischer wie dynamischer Kraftentfaltung mit Zartheit und klanglichem Raffinement.
Der möglicherweise unmittelbare Bezug zum politischen Geschehen der Zeit im Werk von 1990 gerinnt im größer angelegten Stück von 2007 zur philosophisch weiter gefassten Auseinandersetzung. Ist sie abgeklärter? Milder? Ganz im Gegenteil. Entfesselter noch sind die Geräusche, Rufe, Schreie, das Poltern von Schlägen und Steinen. Kein Zurückziehen eines nun 17 Jahre älteren Autors. Urwüchsig wie eh prallen Rauheit und Sensibilität aufeinander. Und doch überwiegen danach ganz andere Gedanken, die folgenden musikalischen Teile erfahren eine deutliche Erweiterung.IV
“Va, fleur avance”
Von großer Klarheit, Übersicht und Ökonomie ist die Form des Oratoriums. Erscheint das Werk von 1990 noch vegetativ brodelnd, ungeduldig – es scheint dem entscheidenden Satz “Nichts besitzt man, niemals, außer ein wenig Zeit”, in seinem zügigen Vorangehen beinahe zu misstrauen! – nimmt sich der Komponist zur Ausformulierung seiner Ideen nun deutlich mehr Zeit.
Das Werk ist gegliedert in 12 Teile, Teil XII beginnt mit Reminiszenzen an Teil I und rundet somit eine Bogenform, in deren Mitte die bereits erwähnten Teile V bis VII stehen.
Voigtländer hat entlang der Verse Guillevics den Teilen Überschriften gegeben, Schlagworte, von denen die Texte erzählen: Zeit, Tod, Menschen, Dauer, Spiele, Steine, Erde, Feuer… Teil I – III bilden eine Art Exposition: zwei großangelegte Chöre umrahmen das Solo des Baritons “de la mort”, der in Teil III mit dem Chor verwoben ist. Vom Ton H aus entwickeln sich Impulse, Schwingungen, Klangflächen, Harmonien, Improvisationen der Instrumente, stammelnde Worte oder Ausrufe der Soli und des Chores.
Teil IV sinniert und spottet über die Träume. Die Ironie des Tenorsolos, geräuschvoller Klänge und extremer Posaunensoli mündet crescendierend in den Fanatismus des Teiles V. In Teil VI sind den Eskapaden, Schreien und aberwitzigen Sprüngen der Sopranistin das “Zuschlagen” symbolisierende perkussive Elemente zugeordnet. Erst bei den Worten “Es ist nicht ohne Grund, dass wir gezittert haben” findet die Musik zu neuer Ruhe, die von der Reprise “Un deux trois…” (Teil VII – da capo von Teil V) wieder zerbrochen wird. Mit den Worten “Palotte fleur” des kleinen Chores beginnt die Coda des Mittelabschnittes, damit rundet sich der zweite große Entwicklungsbogen.
Den dritten bilden die Teile VIII – X, beginnend mit dem Alt-Solo, weitergeführt mit dem bis zur Zwölfstimmigkeit aufgefächerten Chor (“Le feu – pas le feux”) und der erneuten Verquickung von Solo und Chor in Teil X, dessen Ende sich weitet in den Choral “Va fleur avance”: mehrschichtig sind Soli (vierstimmig), kleiner und großer Chor übereinander montiert und bilden den meditativen Höhepunkt des Werkes.
Teil XII knüpft an den Beginn des Oratoriums an, retardiert nochmals, führt weiter und zu Ende. Unisono-Linien des Chores und gar ein opulent scheinendes D-Dur beenden das Werk, in dessen Finale gleichwohl Geräusche, Dissonanzen, grelles Blech und donnerndes Schlagwerk gemischt sind – ein ‘schmutziger, dreckiger Kitsch’, den Voigtländer hier inszeniert und die Szenerie durch Überhöhung wieder kippen lässt.
Den einzelnen Teilen sind Tonzentren zugeordnet, die in aufsteigenden Terzen von h über d (Teil III), f (Teil V), gis (Teil VIII) wieder zurück zu h führen (Teil XII). Der übergreifenden Struktur indess haftet nichts Schematisches an: der Choral des Teiles XI bspw. erklingt völlig überraschend in g-Moll, dem in Teil IV noch andauernden Tonzentrum d wird – vorgreifend auf Teil VIII – bereits der Tritonus gis zugesellt usw. usf.
Ausgesprochen farbig und vielgestaltig sind Chorführung, Behandlung der Soli und namentlich die Instrumentation. Das keinesfalls große Orchester reizt alle Möglichkeiten der Klangerzeugung, rhythmisch fest gefügter wie aleatorischer Strukturen voll aus: hier schreibt ein Komponist auf der Höhe seiner Kraft, seines Könnens mit Souveränität und großer Meisterschaft – so viel kann bereits jetzt klar und deutlich gesagt und erkannt werden.
“Die Zeit ist da – auf halbem Weg…” – nein, möchte ich entgegnen: Voigtländer ist mit seinem neuen Stück den ganzen Weg einer langen, wunderbaren, sicher auch quälenden Auseinandersetzung mit dem Werk Guillevics gegangen. Die Partitur lässt eine Musik erwarten, die in uns nicht schnell verstummen wird.
Avance!
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Prof. Dr. Herrmann – Oratorium “MenschenZeit”
Die dem Oratorium “MenschenZeit” zu Grunde gelegten Texte von Eugène Guillevic sind von seltener Tiefe und Schönheit. Ihr Grad der Verallgemeinerung ist für die Gattung Oratorium ein Gewinn, dominierte doch mitunter bei oratorischen Werken vor allem des 20. Jahrhunderts zu sehr das Konkrete.Die Vertonung der Guillevic-Texte ist subtil. Diese Subtilität zeigt sich nicht nur bei der Wahl der kompositorischen Mittel, sondern auch in der Instrumentation. Sie ist vielfältig, originell und unterstreicht deutlich das klangfarbliche Element – für die Rezeption eines Werkes von beträchtlichem Wert. Ein wesentliches Merkmal der Gattung Oratorium liegt in der bevorzugten Behandlung der menschlichen Stimme: beim Oratorium “MenschenZeit” einerseits in der solistischen wie chorischen Abstufung (große und kleine Besetzung), andererseits im nachdrücklichen Transportieren von Sprache. Das textausdeutende Element spielt zudem eine wichtige Rolle, vorder- wie hintergründig. nach oben
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